Dieser Artikel ist die überarbeitete Fassung eines Vortrages, den Volker Banfield 1987 in der Bayerischen Akademie der schönen Künste München gehalten hatte.


György Ligeti ist im Schaffen komplexer Strukturen immer ein großer Virtuose gewesen, und auch seine neuen Werke lassen ein Nachlassen dieses hohen Anspruchs an die Perfektion der Form in keiner Weise erkennen. Beginnend mit dem Horntrio aus dem Jahre 1982 jedoch scheint es ihm nicht mehr so gut zu gelingen, sich selbst hinter diesen komplexen Techniken zu verstecken - ganz im Gegenteil manifestiert sich der Mensch Ligeti immer deutlicher, wenn auch (und das ist als künstlerisches Kompliment gedacht) als integraler Bestandteil seiner komplizierten Strukturen. Unverändert ist seine Beschäftigung mit und Faszination durch die Zeit und die vielfältigen Möglichkeiten ihrer Einteilung. Auch in den neuen Etüden ist dies das zentrale Thema, wenn sie auch bei aller Modernität durchaus an die Tradition virtuoser Etüdenkompositionen, etwa von Chopin, Liszt und Rachmaninoff anknüpfen. Die Traditionsverbundenheit zeigt sich hier nicht zuletzt in der virtuosen Ausschöpfung der klanglichen Möglichkeiten des Instruments und natürlich in den außerordentlichen pianistischen Schwierigkeiten, die der Interpret zu überwinden hat.

Zum Beispiel sind in der vierten Etüde "Fanfares" die Anforderungen an das Doppelgriffspiel (in einer Hand) auf eine neue Spitze getrieben, nach meiner Kenntnis auch erstmalig auf die linke Hand übertragen (Feux Follets von Liszt, Chopin's Terzenetüde oder das es-moll Prélude von Rachmaninoff quälen hier jeweils nur die rechte Hand). Doch zuerst noch ein paar Worte zur Entstehungsgeschichte der Etüden: Die ersten drei Etüden "Désordre", "Cordes vides" und "Touches bloquées" sind für Pierre Boulez' sechzigsten Geburtstag komponiert und ihm gewidmet - konnten zu diesem Tag jedoch nicht aufgeführt werden, da ihre außerordentliche Schwierigkeit eine längere Vorbereitungszeit für den Pianisten erfordert hätte. "Automne à Varsovie" hat Ligeti für das Festival "Warschauer Herbst" 1985 komponiert und wurde dort von mir zusammen mit der dritten Etüde uraufgeführt. "Fanfares" und "Arc-en-ciel" sind ein Auftragswerk der Bayerischen Vereinsbank (so was gibt es tatsächlich) und ich spielte die Uraufführung ebenfalls in einem Konzert der Reihe "8+" in Hamburg. "Galamb Borong" und "Fém" sind Auftragswerke der Berliner Festwochen und wurden dort von mir im Rahmen eines Klavierabends 1989 uraufgeführt.

Neben aller Traditionsverbundenheit leben diese Etüden jedoch vom Ligeti-typischen Umgang mit der Zeit und dem Rhythmus, und warten hier mit wirklich neuen und kolossalen Schwierigkeiten für uns Pianisten auf. Vielleicht ist es an dieser Stelle sinnvoll, auf zwei Einflüsse einzugehen, die Ligeti immer wieder zitiert, auch wenn mir scheint, dass er dabei in für ihn typischer Bescheidenheit seine eigene erfinderische Leistung unterbewertet. Da ist zunächst der hierzulande (und genaugenommen auch anderswo) immer noch kaum bekannte Komponist Conlon Nancarrow, der sich eine sehr bemerkenswerte Beschränkung auferlegt: alle seine Kompositionen sind für zwei (klanglich unterschiedliche) mechanische Player-Pianos konzipiert, deren Papier-Lochstreifen er in mühevollster Kleinarbeit von Hand direkt kodiert. Natürlich können seine Werke auch nur von diesen Player-Pianos gespielt werden. Das ist also, wenn man so will, außer in der elektronischen Musik das einzige Mal, dass es einem Komponisten gelungen ist, das unsichere, weil - zumindest in einigen Exemplaren der Gattung - selbstständig denkende Medium "Pianist" auszuschalten. Das ist nicht unbedingt eine Boshaftigkeit, sondern der Versuch, klangliche und rhythmische Konstruktionen erklingen zu lassen, deren präzise Ausführung einem menschlichen Spieler schlicht unmöglich wäre. Nancarrow arbeitet mit rasenden Tempi, gleichzeitig in verschiedenen Tempi ablaufenden rhythmischen Figuren, gegenläufigen Accelerandi und Ritardandi - eine durch ihren Einfallsreichtum und ihren Witz absolut faszinierende Musik. Natürlich hat sich Ligeti selbst schon lange vor dem Kennenlernen von Nancarrow's Werk mit ganz ähnlichen Problemen beschäftigt - es ist ja durchaus nicht ungewöhnlich, dass verwandte Ideen gleichzeitig an ganz verschiedenen Orten heranreifen.

Der andere wichtige Einfluss ist die Musik des subsaharischen Afrika. Hier gibt es eine Variante, wo zwei Musiker sich gegenüber stehend auf demselben Xylophon spielen - in rasendem Tempo und nicht auf periodische Weise, wie man das etwa aus der balinesischen Musik kennt. Hier werden sehr groß gefasste Einheiten gespielt, jeder Spieler in einem Tempo das ganz geringfügig von dem des anderen abweicht, so dass sich hier eine zunächst kaum hörbare Phasenverschiebung ergibt. Wegen der hohen Geschwindigkeit kann man keinen Grundpuls mehr als rhythmisch geformtes Element wahrnehmen, so dass ein von diesem Grundpuls, der für die abendländische Musik ja sehr charakteristisch ist, unabhängiger rhythmischer Schwebezustand entsteht.

Einen ähnlichen Effekt erreicht Ligeti in den Etüden - besonders in der ersten und der sechsten. Letztere hat zwar noch einen Grundpuls, realisiert durch eine durchlaufende 1/16 Bewegung - doch dient dieser Grundpuls eher als Orientierung für den Spieler und ist weniger substantieller Teil der rhythmischen Struktur. Dieser Bewegung sind nun mehrere melodische Linien überlagert, deren Notenwerte jeweils (gleichmäßig) 3 Sechzehntel, 4 Sechzehntel oder bis zu sieben Sechzehntel betragen. Auch hier ist der Grundpuls sehr schnell und die Linien hört man daher nicht mehr in rhythmischer Beziehung zueinander, sondern tatsächlich als in verschiedenen Geschwindigkeiten parallel laufend. Dies funktioniert natürlich nur unter der Voraussetzung, dass dem Pianisten das Kunststück gelingt, die zwei (oder mehr) unabhängigen Spieler des afrikanischen Vorbilds in sich zu vereinen! Faszinierend übrigens, dass die melodischen Linien dieser Etüde von einem durch absteigende Halbtonschritte geprägten Lamento-Thema gebildet werden, das in ähnlicher Gestalt auch die Basis des letzten Satzes des Horntrios bildet (der in seiner emotionalen Intensität zu den ergreifendsten Werken des letzten Jahrzehnts zählt, die ich kenne). Hier finden wir ein typisches Beispiel dieser wundervollen Verwebung von komplizierter Struktur und persönlicher Aussage. Übrigens wird die Textur an manchen Stellen so dicht in ihren Überlagerungen, dass auch ein geschultes Ohr total überfordert wird - hier muss man als Pianist natürlich eine Gewichtung der Stimmen vornehmen, vergleichbar der farblichen Strukturierung der einzelnen Stimmen etwa einer Bach'schen Fuge. Ein ähnliches Prinzip bestimmt die erste Etüde, über deren Titel "Désordre" durchaus philosophiert werden darf. Hier geht es zwar kompliziert, aber doch recht ordentlich zu. Das ursprüngliche "Thema", bestehend aus einer 3/8 und einer 5/8 Gruppe, verläuft zunächst zwischen den Händen synchron. Allmählich jedoch werden den Gruppierungen der einen Hand einzelne Noten hinzugefügt, womit die sehr scharfen Akzente, die durch die ersten Noten der Gruppen gebildet werden, zwischen der rechten und linken Hand auseinanderlaufen. Im weiteren Verlauf der Etüde werden die Gruppierungen auch unregelmäßig verkürzt, was die Illusion einer großen Temposteigerung bewirkt (Ligeti nennt seine Schreibweise folgerichtig auch "Illusionsrhythmik").

In beiden Etüden stellt sich für den Spieler das Problem, sein traditionelles rhythmisches Denken umzustellen: weg von einer durch ein starres Raster (durch Taktstriche symbolisiert), durch teilbare und periodisch wiederkehrende Verhältnisse geprägten Struktur hin zu einem additiven rhythmischen System. Techniken, die zwar schon bei Bartók (etwa im zweiten Klavierkonzert die eingeschobenen Takte 3/4+1/8) oder Messiaen vorbereitet werden, in dieser Konsequenz und Vollkommenheit jedoch erst in diesen Etüden formuliert werden.

In den neueren "Berliner" Etüden setzt Ligeti andere Akzente (immerhin liegen fast vier Jahre zwischen "Galamb Borong" und "Automne à Varsovie"). Auch wenn der Titel "Galamb Borong" für ein europäisches Ohr den Klang indonesischer Exotik anregen mag, so handelt es sich doch um eine ungarische Bezeichnung. Dennoch ist hier durchaus eine Anspielung an Fernöstliches intendiert: die Etüde bewegt sich konsequent im Ganzton-Raum, einer Tonalität, die schon Debussy nach ersten Kontakten mit fernöstlicher Musik faszinierte. Ligeti findet hier jedoch eine interessante Steigerung dieses Prinzips: die Etüde basiert auf zwei, um einen halben Ton versetzten Ganzton-Skalen, die durch das ganze Stück strikt der rechten bzw. linken Hand zugewiesen werden. Der für die Ganztonleiter charakteristische harmonische Schwebezustand (durch die gleichmäßigen Ganztonabstände ergeben sich keine harmonischen Spannungsfelder und damit kann sich auch kein Grundton ausbilden) wird durch diese Technik enorm intensiviert und wir hören ein verwickeltes, schillerndes Gebilde - nicht weit entfernt von Escher's paradoxen Zeichnungen (oder vielleicht "Voiles" von Debussy durch einen zerbrochenen Zerrspiegel gesehen?). Ligeti nennt diese Technik (die er zum ersten Mal im fünften Satz des Klavierkonzertes verwendete) übrigens "schrägäquidistanziell". Auch wenn ein bekannter Berliner Kritiker diese Bezeichnung als exaltiert-spinnös abtat, trifft sie die Sache doch recht genau, denn die doppelte Entwurzelung durch zwei nebeneinander her laufende Ganztonskalen ist kaum besser zu charakterisieren!

Ein ganz anderes Klangbild hat "Fém": ein im Verhältnis 9:8 arrangierter, an alte Ragtimes erinnernder Jazz-Rhythmus in klare, unnahbare, fast schneidende Quintenpassagen gefasst: als hätte Ligeti hier die zarte Emotionalität von "Arc-en-ciel" in ihr kühl-verschlossenes Gegenteil verkehren wollen!
"Arc-en-ciel": dieses langsame, wie ein dekadent entschwebendes Jazz-Nocturne wirkende kleine Juwel symbolisiert für mich den eingangs angesprochenen, "neuen" Ligeti - außerordentlich streng in der harmonischen Konstruktion und gleichzeitig von starker emotionaler Aussage. Es muss ein bisschen das alte Versteckspiel sein, das Ligeti dieses Stück, anlässlich eines Vortrags in Wien, etwas leichthin als die "Leiche der Tonalität" bezeichnen ließ.